Nagini
Völlige Dunkelheit. Rascheln. Zischen. Ich öffnete die Augen und fand mich desorientiert in einer dunklen, erdigen Höhle wieder. Fahles Licht drang durch kleine unscheinbare Erdgänge zu mir herunter. Erstaunt blickte ich mich in diesem bräunlich, oliv-grünen Unterschlupf um und spürte, dass ich nicht alleine war. Um meine Füße und durch die gesamte Erd-Kathedrale verteilt wanden sich hunderte Schlangen in schuppigem Gleichmut. Sie waren mit allen Größen, allen Arten und in prächtiger Vielfalt vertreten. Dann wieder dieses Zischen. Räuberische Augen, die auf mir ruhten. Langsam drehte ich den Kopf und sah nach oben. Und da war Sie: Die Kobra, etwa drei mal so groß wie ich, mit ihrem weit aufgespannten Nackenschild, dessen opaleszierendes Erscheinungsbild etwas zutiefst bedrohliches hatte, aber ebenso zum Staunen anhielt. Mit diesem Nackenschild bäumte Sie sich über mir auf und bildete damit eine Haube, die mich in jedem anderen Moment an die Sixtinische Kapelle erinnert hätte, nur dass mir in diesem Falle nicht die Fresken Michelangelos entgegenblickten, sondern die Brillenzeichnung einer der giftigsten Lebewesen unserer Erde. Sie fing langsam und immer schneller an sich von links nach rechts zu bewegen, schüttelte sich, spannte ihren Schild auf, irritierte mich, zeichnete mit ihrem Naturell hypnagoge Bilder in meinen Geist und…verschwand. Ihr Schild wurde in einer drehenden Bewegung zu bunt herumwirbelnden Fächern.
Die kühle Erde wich dem roten Leinen einer im warmen Wüstenwind zappelnden Jurte, die Schlangen verschwanden und stattdessen stand eine junge Familie vor mir. Da war die Mutter, die mich um einen Kopf überragte und von strahlender Schönheit war. Ihr Anblick war geprägt von Anmut und Numinosität. Durch sie pulsierte die Ewigkeit, das konnte ich spüren. Ihr Körper war schmächtig, ihre dunklen Haare lagen ruhig auf den Schultern, ihr Blick lag durchdringend auf mir. Goldringe und Ketten, die von den Ohren zur Thoraxmitte ihrer zeremoniellen Gewänder reichten. Goldene Platten in Lippen und Ohrläppchen. Skarifizierungen auf den Schultern und Brüsten. Neben ihr standen ihre Töchter und Söhne, die mich skeptisch musterten. Ihre Körper waren ebenfalls in rotes Leinen gehüllt, allerdings schienen ihre weniger opulenten Körper Modifizierungen auf eine mir nicht zugängliche Ordnung hinzuweisen. Dann wurde es ernst. Sie sah mich an und konfrontierte mich auf einer mir fremden Sprache, die ich trotz meiner Unfähigkeit diese zu übersetzen, intuitiv zu begreifen schien. Ihre Worte sagten: „Nun, du hast dich dazu entschieden ins Unbekannte zu gehen. Bist du wirklich bereit dazu?“ Ich zögerte und überlegte. Sie schienen jeden meiner Gedanken zu verfolgen und auf einer feinen Waage mit der Unendlichkeit zu vermessen. Würde ich mich widersetzen, das wurde in diesem Moment unmissverständlich klar, würde ich die Feindseligkeit meiner Gastgeber auf mich ziehen. Sie würden mich nicht weiter ins Unbekannte begleiten, wodurch ich ungeschützt wäre und aus Angst schnell wieder den Weg ans Tageslicht suchen würde.
Die andere Möglichkeit bestand darin dieser fremden und bedrohlichen Entität zu vertrauen, auf dass sie meinen Geist während meiner Abwesenheit beschützen werde. Es war ein Blutschwur, ein alchemistischer Pakt, ein Abkommen mit den Leitbildern meiner Psyche. Ich blickte auf und sie schien die Antwort zu kennen. Denn sobald ich sie ansah begann sie bedeutungsschwer die Arme zu heben und summte in einer mir fremden Sprache das immer selbe Wort, dessen Widerhall bis in meine Organe drang und dessen Obertöne meinen Kopf beherrschten: „Inanna-aaa. Inannaa. Inanna. Inanna.“ Ihre Kinder stimmten mit ein und der kosmische Chor umhüllte mich vollständig. Sie sprach erneut: „Inanna.“, diesmal kräftig und voller Inbrunst, hob ihren Zeigefinger, senkte ihn auf meine Stirn, berührte damit mein drittes Auge und verschwand.
“Nagini“ beruht im metaphysischen Sinne auf wahren Begebenheiten, wenn man mir zugesteht die allgemein anerkannten Grenzen dessen, was wir als Realität bezeichnen, ein wenig zu lockern. Durch eine gewisse Verkettung von Ereignissen kam es also dazu, dass mein psychophysischer Zustand im Zusammenspiel mit meiner Umgebung eine mystische Erfahrung begünstigte und sich diese Sequenz vor meinem inneren Auge materialisierte. Der Text selbst ist der verzweifelte Versuch diese überwältigende Erfahrung künstlerisch möglichst akkurat zu reproduzieren und so anderen Menschen zugänglich zu machen.
Nagas und Naginis finden sich in der hinduistischen, indischen, und tibetisch-buddhistischen Mythologie, als auch bei den Tuman-Dayak auf Borneo. Sie sind mächtige, archetypische Wesen, halb Schlange-halb Mensch und die Wächter der Übergänge.
Außerdem finden wir die Vereinigung von Himmel und Erde, die kosmische Hochzeit und die damit skizzierte Dichotomie. Vergleichbare historische Referenzen finden sich bereits in der Kosmogonie des alten Mesopotamien: A priori bestehend und als vorausgesetzt angenommen werden An („Himmel“) und Ki („Erde“).
Doch wie sind diese Bilder zu verstehen und wo kommen sie her? Einen Ansatz, welchen ich persönlich präferiere, bietet die Jung‘sche Psychologie: So wird beschrieben, dass Menschen in psychischen, physischen oder spirituellen Krisen die Tendenz haben unwillkürlich starke innere Bilder zu manifestieren, die als Triebfeder für einen selbstregulierenden Prozess zu funktionieren scheinen. Interessant ist dabei, dass es seit den ersten menschlichen Überlieferungen unzählige, transkulturelle Ähnlichkeiten und Verschränkungen gibt, Verschränkungen, die alle Kosmogonien, Theogonien und Mythologien durchdringen. Interessante Einblicke zu diesem Thema bietet Joseph Campbell. Er spricht von dem Held mit den Tausend Gesichtern, den immer wiederkehrenden Mustern und Schleifen menschlicher Glaubenskultur. Spiritualität und Religion sind im Grunde genommen genau das:
Die Kunst starke innere Bilder und Geschichten zu kultivieren, zu überliefern und zum Leben zu erwecken, um spirituelle Reinigungsprozesse zu aktivieren.
Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott selbst. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen; nichts ist ohne das Wort entstanden.