Meine erste Reanimation
Am Montag begann mein erstes richtiges Wachpraktikum mit einem Aktivtag. Etwas in der Form gab es bei der Berufsfeuerwehr bislang noch gar nicht, weshalb mein Praxisanleiter improvisierte. Wir klärten alles Organisatorische, Ich bekam einen Spind zugewiesen und zog mir Sportsachen an. Ab da ging es los. 30 Grad Celsius. Wir liefen jedes einzelne verfickte Krankenhaus an, das im Wachbezirk der Feuerwache 1 lag. Alle 6 Minuten machten wir 10 Liegestütze und gingen außerdem vor jeder roten Ampel in die Liegestütz-Position und hielten diese bis es grün wurde. 5 Krankenhäuser, 2,5 Stunden, 19 Kilometer. Die letzte halbe Stunde war ein reiner Willenskampf, meine Beine fingen langsam an zu krampfen, mein Blutzuckerspiegel sank und Ich schwitzte wie verrückt.
Anschließend war Ich entlassen, um am nächsten Morgen um viertel vor 7 meinen ersten 12-Stunden Dienst anzutreten. Die ersten Stunden war nicht viel los, einige Synkopen, also Sturzgeschehen durch Bewusstlosigkeit, Betrunkene und minder schwere Verletzungen. Dies alles fiel in Kategorie 1, man wird also ohne einen Notarzt zur Einsatzstelle alarmiert. Unterteilt wird jeweils in Internistisch und Chirurgisch. Starke unklare Bauchschmerzen sind zum Beispiel internistisch. Ein gebrochener Oberschenkel nach einem Autounfall wiederum wäre entsprechend chirurgischer Natur.
Halb 7 abends ging also wieder der Alarm: „DING DING. Intern 2 für den RTW 1–1 an der Haltestelle Heumarkt zusammen mit dem NEF 10–1. Intern 2 für den RTW 1–1 an der Haltestelle Heumarkt zusammen mit dem NEF 10–1. KNACK.“ Eine halbe Stunde vor Dienstende. Mein erster Tag. Wir liefen zum Rettungswagen, stiegen ein, machten das Blaulicht an und uns auf den Weg. In solchen Fällen nimmt das zuerst eintreffende Fahrzeug alle Geräte mit. Auf dem Weg dorthin holten wir uns genauere Informationen von der Leitstelle, während wir mit 80km/h und eingeschaltetem Martinshorn durch die Kölner Innenstadt rasten. Ich streifte mir Handschuhe über und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Der Wagen hielt. Ich schnallte mich ab, nahm den Defibrillator in die eine und das Sauerstoffgerät in die andere Hand, meine Kollegen mit Absaugpumpe und Notfallrucksack den Rest. Im Eiltempo liefen wir runter in die U-Bahnstation. Auf der Mittelebene, 100 Meter von uns entfernt stand ein Passant, augenscheinlich ein junger Student Anfang 20 mit zerzaustem Haar. Vor Ihm auf dem Boden ein gepflegter Obdachloser. Sein Gesicht war blass, die Lippen blau. Wir sprachen ihn an und er gab uns mit schwachen Worten zu verstehen, dass er keine Luft bekomme. Es ging um Sekunden. Wir schlossen die Sauerstoffmaske an, während Ich dem Patienten Puls-Oxymeter (welches uns die Sauerstoffsättigung, also die relative Menge des gebundenen Sauerstoffs an das Hämoglobin im Blut, verriet) , Blutdruckmanschette und EKG anlegte.
„Leute, unser Patient trübt ein.“, hörte Ich mich sagen, als Ich gerade mit dem Monitoring fertig war. Er verlor das Bewusstsein. Laut EKG hatte er keinen Herzinfarkt, Differenzialdiagnose wäre also eine Lungenembolie, überlegte Ich.
Der Notarzt traf ein und mittlerweile hatte der ältere Herr vor uns weder Puls noch Atmung. Alles ging blitzschnell. Noch eben hatte er an der Wand gelehnt gesessen und mir in die Augen gesehen, jetzt plötzlich lag er auf dem kalten Betonboden, mit zerschnittener Kleidung und Ich drückte zum ersten Mal in meinem Leben auf einem menschlichen Brustkorb herum, um zumindest mechanisch seinen Kreislauf in Gang zu halten. Meine Kollegin intubierte unterdessen die Luftröhre und 10 Minuten später hatten wir wieder einen stabilen Rhythmus mit einer 49er Herzfrequenz. Ein kleines Gerät am Tubus verriet uns den CO² Gehalt der Ausatemluft, welche darauf hinwies, dass eine Diffusion, also der Gasaustausch in der Lunge intakt war. Wenige Sekunden später fing er wieder an zu flimmern und Ich wurde angewiesen zu Schocken, während der Notarzt im 3-Minuten-Takt Adrenalin verabreichte.
„Geladen. Weg vom Patienten. Schock wird ausgelöst.“
200 Joule schossen durch den Brustkorb. Dieses Spiel ging noch 5 weitere Male so. Wir drückten, verabreichten Medikamente, schockten, bekamen ihn wieder und verloren Ihn. Nach 1,5 Stunden wurde er für tot erklärt, seine Pupillen waren mittlerweile entrundet, ein sehr sicheres Todeszeichen, das man unschwer ignorieren kann, ganz gleich mit wie viel Willenskraft man das Leben des Menschen vor einem retten möchte. Ich war verschwitzt und mir wurde ein wenig schlecht.
Der Mann hatte sein Leben gelebt, neben mir stand seine offene Tasche. Sein Name war William. William hatte an diesem Tag Brot und Fleisch eingekauft. Sein Blick war friedlich. An diesem Abend sollte es für Ihn kein Abendessen mehr geben. Sein Leben endete in einem Rettungswagen, mit zerschnittener Kleidung und schütterem Haar. Er hatte eine kleine Tasche bei sich, aus hellem Leder mit kleinen Lederstreifen an der Oberseite, wie es bei den Indianern üblich ist. Er war mir sympathisch.
Diese Erfahrung kontrastierte meine letzte Erfahrung mit dem Tod, als eine ältere Frau im Krankenhaus an Multi-Organ-Versagen starb. Ich schlief in dieser Nacht nicht gut und auch mein Praxisanleiter war nach diesem Einsatz sehr still.
Man gewöhnt sich erstaunlich schnell daran. Man weiß wofür man es tut, das motiviert weiter zu machen. In diesem Fall konnten wir Ihn nicht retten, doch wir haben alles getan, was wir tun konnten und sich im Nachhinein zu fragen: „Was hätte ich besser machen können?“ ist im Ersten Moment gut, sollte aber nicht dazu führen, dass man in Selbstmitleid und Trauer versinkt. Wir sind Menschen und jeder von uns führt seinen eigenen inneren Leidenskampf aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich wiederhole das bewusst, weil es genau das ist, was uns so menschlich macht. Sich selbst zu reflektieren, sich selbst bewusst zu sein, dass man ist und in einer Welt voller Schmerz trotzdem nicht den Mut zu verlieren.
Notizen vom Autor:
- Alle Namen und zeitlich/örtlichen Daten wurden zum Schutz der Betroffenen verändert
- Danke fürs Lesen! ☀️