Haben oder Sein

Eine Hommage an Erich Fromm

Lukas Wenning
3 min readJul 30, 2019
Photo by Alex Grey

Das Buch „Haben oder Sein“, welches 1976, vier Jahre vor Fromm‘s Tod veröffentlicht wurde, beschreibt zwei essentielle, schon immer im menschlichen Verhalten verankerte Existenzweisen. In Anbetracht der selbstverschuldeten Problematik, der wir uns als gesamte Menschheit konfrontiert sehen, entschied ich mich dazu diese Differenzierung hier anzusprechen. Doch dazu später mehr.

Wie viele von euch vielleicht wissen arbeite ich momentan im Rettungsdienst. In einem Einsatz wurden wir zu einer jungen alleinerziehenden Mutter gerufen, die bei dem Versuch ihren im Rollstuhl sitzenden Sohn die Treppe hinunterzutragen, einen Bandscheibenvorfall erlitten hatte und nun weinend und zusammengekrümmt auf dem Boden saß. Ihr Sohn, 21 Jahre alt, litt im Kindesalter an einem sogenannten Hydrocephalus, einer krankhaften Wasseransammlung im Gehirn, die, trotz Behandlung, zu irreparablen neurologischen Schädigungen geführt hatte. Während des Einsatzes wurden wir mit der Problematik konfrontiert, dass der Sohn weder alleine zuhause bleiben konnte, aber ebensowenig mit ins Krankenhaus kommen wollte. Die Vergangenheit hatte einen nicht allzu schmeichelhaften Eindruck hinterlassen, wenn es um Ärzte, Medizin und derartige Dinge ging, die zu verstehen er nicht imstande war.

Nach einiger Zeit musste er auf Toilette und – auch um der Problematik kurz zu entkommen- trugen wir den Jungen in seinem Rollstuhl zurück zur Wohnung. Wir schlossen für ihn auf und der Junge ließ sich mit viel Geschick auf seine Knie fallen. Seine Beine waren nicht völlig gelähmt, doch laufen war unmöglich. Er krabbelte und zog sich durch den Flur, die Treppe hoch, bis ins Bad. Wir sahen förmlich was für eine Anstrengung das sein musste.

Er tat mir Leid und doch bewunderte ich ihn. Trotz all seiner Einschränkungen war seine Seele so rein und strahlend. Trotz der sichtbaren finanziellen Verarmung schafften es diese beiden Individuen, Mutter und Sohn, glücklich zu sein. Ich sah das Strahlen in seinen Augen als er wieder zu seiner Mutter kam, hörte das grunzende Lachen als mein Kollege ihn auf den Beifahrersitz setzte, ihm Handschuhe in die Hand drückte, Blaulicht und Sirene einschaltete mit den Worten: „Jetzt bist du ein echter Sanitäter!“

Das ist die Existenzweise des Seins. Das ist bedingungslose Liebe. So wie sie die Mutter für den Sohn empfindet.

Die Existenzweise des Haben’s jedoch ist anders. Fromm schreibt:

Wenn ich sage: „Ich habe ein Problem“ anstelle von „Ich bin besorgt“, dann wird die subjektive Erfahrung ausgeschlossen. Das Ich, das die Erfahrung macht, wird ersetzt durch das Es, das man besitzt. Ich habe meine Gefühle in etwas verwandelt, das ich besitze: das Problem. Ein „Problem“ ist ein abstrakter Ausdruck für alle Arten von Schwierigkeiten. Ich kann es nicht haben, da es kein Ding ist, das man besitzen kann, allerdings kann das Problem mich haben; genauer gesagt, habe ich mich dann in ein „Problem“ verwandelt, und meine Schöpfung hat Besitz von mir ergriffen. Diese Art zu sprechen verrät die versteckte unbewusste Entfremdung.

Diese Art und Weise die Welt zu betrachten ist unfassbar anstrengend. Sie impliziert, dass wir nur so viel sind wie wir haben.

Dadurch limitieren wir unbewusst unseren eigenen Selbstwert und schenken uns selbst nur insofern das Recht mehr zu sein als wir sind, als dass wir denken, was wir sind.

Dies bedeutet leider auch, dass wir nur die Liebe zulassen, von der wir denken, dass wir sie verdienen.

ver-dienen. dienen.

Wieder machen wir uns zum Diener unserer Umstände, zum passiven Teilhaber unseres Lebens, anstatt zum aktiven Gestalter des selbigen.

Wollen wir in der Welt etwas verändern, so müssen wir bei uns selbst anfangen. Vom Haben zum Sein, aufhören uns über unsere Besitztümer zu definieren und wieder lernen mit wenig glücklich zu sein. Erfolg ist schön und erfolgt automatisch aus den richtigen Werten und Prinzipien. Es geht nicht darum nichts zu haben, sondern zu realisieren, dass wir die Fähigkeit haben uns aus den Zwängen der materialistischen Gesellschaft zu befreien.

[…] Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen „Fortschrittsreligion“, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die „Stadt Gottes“.

Die Industrialisierung war ein Segen, doch die Resultate sind verheerend. Niemand kann die Klimaerwärmung mehr leugnen. Vor ein paar Tagen, also innerhalb von knapp 7 Monaten, verbrauchten wir alle Ressourcen für ein gesamtes Jahr. Wie ein fress-süchtiger Jugendlicher stopft sich die Menschheit voll. Lasst uns diesem Jugendlichen helfen. Denn ansonsten stirbt er an einem verfickten Herzinfarkt.

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Lukas Wenning
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Written by Lukas Wenning

The emergence of life from the dark chrysalis of matter 🌿

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