Ein Tauchgang in die Weltenseele
7 Milliarden 80 Millionen 360 Tausend Menschen leben auf diesem winzigen Planeten. Es gibt einen alten chinesischen Mythos über den roten Faden des Glaubens. Dort heißt es, dass die Götter einem jeden von uns einen roten Faden ums Fußgelenk geknotet haben und ihn an allen Menschen befestigt haben, deren Leben wir der Vorsehung nach berühren werden. Dieser Faden kann sich dehnen oder verdrehen, doch er wird niemals zerreißen.
Ich stand auf einer Dachterrasse und blickte über die Stadt. Ein dichter Nebel zog sich über die Dächer. Von weitem sah es so aus, als würde der entfernte Kirchturm von einer übermächtigen Kraft in den Himmel gezogen werden. Eine Art Strudel aus Nebel hatte sich um deren Spitze gebildet, während der nächtliche Horizont von einem dumpfen blau-lila Leuchten erfüllt war. Währenddessen fand in meinem inneren ein tragischer Kampf zwischen den Dämonen und Engeln statt, die ich durch alles was ich tat und alles was ich war, heraufbeschwört hatte. Vehement versuchten sie die Existenz des jeweils anderen zu zerstören, wodurch sie sich nur weiter die Kraft gaben, die sie brauchten.
Zum ersten Mal seit einem Jahr hatte ich mir die Mühe gemacht mir diesen Kampf anzuschauen und urteilsfrei zu betrachten. Zum ersten Mal hörte ich sie sprechen und bemerkte, was ich mir selbst angetan hatte. Ich sah nach außen und erkannte, dass innen und außen untrennbar miteinander verbunden sind. Ich schaute mir meine Umgebung an und begann plötzlich zu spüren, wie alles mit mir spricht und mir, sollte ich mir die Zeit nehmen es anzuhören und scharf zu betrachten, wichtige Lektionen beizubringen hatte. Es war eine Sprache fern von Worten, viel älter und weiser als ich es jemals formulieren könnte. Die Sprache der Zeichen.
Damals, so erinnerte ich mich, zur Zeit des alten Roms gab es einen Berufsstand, der sich Auguren nannte. Diese verharrten tagtäglich in ihren Tempeln und betrachteten den Flug der Vögel, um daraus auf den Willen der Götter zu schließen und gewisse Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Den gesamten Tag versanken sie in einer Trance, während sie beobachteten, wie die Vögel ihre Kreise zogen und in Formationen elegant durch die Luft schwebten. Sie betrachteten den Wind und wie die Ähren unter seinem sanften Druck nachgaben. Daraus entstand der Begriff „Kontemplation“.
Wenn wir ruhig sind, dann spricht das Universum mit uns. Wenn wir ruhig sind, so erkennen wir die Zeichen hinter dem scheinbaren Chaos und entdecken, dass wir alle miteinander verbunden sind.
An jenem Tag erwachte eine mächtige Kraft in mir, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Plötzlich spürte ich tief in meinem Inneren eine längst verlorene Stimme zurückkehren, als hätte sie nur darauf gewartet mir wieder den Weg weisen zu dürfen. Ich genehmigte es. Denn ich begann zu verstehen, dass es mehr gibt, als uns die oberflächliche Materie der Dinge zu vermitteln versucht.
16 Tage später um genau 16 Uhr sprang ein Mann von der Südbrücke, um sich das Leben zu nehmen. Nachdem er aus dem Wasser gezogen wurde begannen wir zu reanimieren. Er war ertrunken und durch jede Kompression seines Thorax schäumten Erbrochenes und Wasser aus seinem Mund. Seine Augen waren weit geöffnet und sein Gesicht aufgequollen. Ich spürte, dass keine Seele mehr in ihm steckte, doch damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Der Mann hatte zwar seine Entscheidung getroffen, jedoch schienen die Lebenswege aller Anwesenden hier zusammenzulaufen. Er war unweigerlich in unsere Hände geraten und wir taten -unserem Naturell entsprechend- alles dafür, um ihn zurück ins Reich der Lebenden zu befördern. 35 Minuten danach waren wir im Krankenhaus und man teilte uns später mit, dass er wieder einen eigenständigen Rhythmus entwickelt hatte. Ich war in keiner Sekunde in Stress geraten und doch merkte ich wie sich ein gewisser innerer Frieden in mir ausbreitete.
Tief in meinem Herzen wusste ich, dass all das hier vorherbestimmt war. Ganz gleich wie verloren wir uns fühlen, der Schmerz all dieser Erfahrungen hat das Potenzial uns über jede Streitigkeit und selbstbezogene Eitelkeit hinwegschreiten zu lassen. Ich begriff, dass Schmerz und Freude untrennbar miteinander verbunden sind und immer ein kleines Fragment des Gegenstücks in sich selbst tragen.
Sich von dem inneren Leiden zu befreien, bedeutet genau diese Unzertrennlichkeit beider Elemente zu realisieren. Jedes Mal wenn ich innerlich dagegen ankämpfe wird es schlimmer. Wenn ich in den Schmerz hineingehe und ihn anhöre, dann wird er gehen.
Carl Gustav Jung sagte: „Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat.“
Wer versucht auf dem Wasser zu treiben wird merken, dass jede Bewegung dazu führt, dass wir sinken. Geben wir uns aber vollkommen diesem Moment hin und tun nichts als unseren Körper zu beobachten, so treiben wir nach oben und leben völlig im Hier und Jetzt.
7 Milliarden 80 Millionen 360 Tausend Menschen leben auf diesem winzigen Planeten. Es gibt einen alten chinesischen Mythos über den roten Faden des Glaubens. Dort heißt es, dass die Götter einem jeden von uns einen roten Faden ums Fußgelenk geknotet haben und ihn an allen Menschen befestigt haben, deren Leben wir der Vorsehung nach berühren werden. Dieser Faden kann sich dehnen oder verdrehen, doch er wird niemals zerreißen.