Die Tränen der Adriana Ramadanovic
Eine Kurzgeschichte
Es ging gerade die Sonne auf als Adriana von ihrem kleinen Bruder Elvis geweckt wurde. Er rüttelte an ihrem Arm: „Adriana, Adriana! Wir müssen los!“ Sie fand sich in der Wellblechhütte ihrer Eltern wieder, etwa 10 Kilometer südlich von Belgrad. Das Dach war mit einer löchrigen Plane bedeckt und provisorisch mit Reifen beschwert. Dennoch war es im Inneren immer nass, der Staub der riesigen Müllberge in ihrer Siedlung legte sich wie eine stinkende Decke über den gesamten Slum. Wie jeden Morgen machten sich die beiden mit ihrer großen Schwester Sanela auf den Weg, um gemeinsam im Müll nach Pappe zu suchen, die sie später verkaufen konnten. Manchmal fanden sie auch ein paar alte Stücke Paprika oder Brot. Hätte Adriana zu dieser Zeit, sie war gerade 8 geworden, gewusst was ihr Leben für sie bereithält wäre sie weinend zusammengebrochen oder gar geflohen. Doch sie wusste es nicht.
Ihre Mutter sah sie nur abends, denn sie saß den ganzen Tag im Zentrum Belgrads und bettelte um Geld. Als Roma spürte sie jeden Tag, an dem sie dort auf dem kalten Asphalt saß die Blicke der vorbeiziehenden Menschen auf ihr lasten. Sie konnte sich nicht erklären womit sie diesen Hass verdient hatte, wo sie doch selbst Opfer von Unterdrückung und Diskriminierung geworden war. Früher war sie eine hart arbeitende Frau, eine erfolgreiche Schneiderin von Beruf, doch jede Möglichkeit zu Arbeiten wurde ihr in Serbien verwehrt, jede freundliche Bitte mit Ekel erwidert. Das erfüllte das Herz der liebevollen Merima mit tiefer Traurigkeit.
Derweil suchte Adrianas Vater Muhamed nach einem Ausweg. Er war ein grund-ehrlicher Mensch. Seitdem er in Serbien lebte griff er jedoch immer wieder zum Alkohol, was seiner ursprünglichen Scharfsinnigkeit einen gewissen Preis abverlangt hatte. Durch einen befreundeten Roma hatte er erfahren, dass es im Norden Belgrads einen dubiosen Geschäftsmann gab, der schon einigen seiner Bekannten geholfen hatte etwas Geld zu verdienen. Er hatte von solchen Menschen gehört und ihm war klar, dass es vermutlich um illegale Angelegenheiten ging. Die ersten Jahre in Serbien hatte er noch versucht Hilfe vom Staat zu bekommen oder mit seiner Familie nach Deutschland zu fliehen. Doch dafür brauchte er knapp 2000€, 1000 für die Bustickets und weitere 1000, um an der serbischen Grenze als Touristen anerkannt zu werden. Die 3 bis 4 €, die er und seine Familie insgesamt am Tag verdienten, reichten nicht mal für genügend Essen. Vor einigen Jahren hatte er sein viertes Kind, seine geliebte Tochter, im Alter von 10 Monaten an einer schweren Lungenentzündung verloren und war seitdem fest entschlossen eine Lösung zu finden. Er konnte es nicht mehr ertragen zu sehen, wie seine Kinder mit Sand versetztes Wasser tranken und in 2 Meter tiefen Müllcontainern nach verschimmelten Überresten suchten.
Am Ziel angekommen klopfte er an eine verrostete Stahltür. Er befand sich in einer engen Seitengasse, während streunende Hunde mit ausgefallenem Fell wie wild geworden eine hilflose Maus verfolgten. Er war sehr angespannt, Schweißperlen tropften von seiner Stirn als sich die Tür öffnete und ein hagerer Mann in einem verdreckten Unterhemd zum Vorschein kam:
„Was willst du, Zigeuner?“
„Ich will zu Ivan, Alen schickt mich.“
Sein Gegenüber bedeutete mit einem Kopfnicken ihm zu folgen, nachdem er mit einem kurzen Blick die Seitenstraße inspizierte, um sicherzugehen, dass niemand sie gesehen hatte. Muhamed war außer sich vor Angst, als er dem kleinen Hageren durch die –mit Graffiti besprühten- Betonkorridore folgte. Schon nach wenigen Minuten hatte er die Orientierung verloren, was seine Angst nur noch verschlimmerte. Kurz darauf fand er sich in einer großen Halle wieder, die früher ein Theatersaal gewesen sein musste.
„Warte hier.“, wies ihn der Kleine zurecht und verschwand hinter einem Vorhang. Dadurch hatte er einen kurzen Moment Zeit, um seine Umgebung zu betrachten. Obwohl der Putz heruntergekommen war und überall zerstörte Holzbänke und Instrumente lagen, die an eine vergangene Zeit erinnerten, war diese Umgebung recht steril im Vergleich zu der Siedlung aus der er gekommen war.
„Du musst Muhamed sein!“, hörte er eine Stimme hinter sich.
Er zuckte zusammen und drehte sich irritiert um. Entgeistert sah er sich einem 1 Meter 90 großen Mann gegenüber, der der Beschreibung nach nur der Anführer Ivan sein konnte. Er trug einen edlen schwarzen Designeranzug und ein blutrotes Hemd. Muhamed wollte etwas sagen, doch man kam ihm zuvor:
„Folgendes ganci: Ich mag dich nicht. Doch ich will dir eine Chance geben, weil ich glaube, dass du sie verdient hast.“
Er verstand nicht recht, nickte aber nur stumm.
„Ich denke du weißt, was hier läuft. Wir verkaufen die besten Drogen in ganz Belgrad. Alles was du da draußen bekommst kommt von mir. Wenn du dabei sein willst meld´ dich vorne bei Goran, der erklärt dir alles weitere.“
Mit diesen Worten verschwand er. Muhamed stand alleine da und seine Eingeweide zogen sich zusammen. Irgendwie fand er den Eingang wieder und erhielt von dem kleinen Hageren, den der Boss Goran genannt hatte, eine gefüllte Papiertüte und ein Messer. Goran erklärte ihm nachdrücklich wo er verkaufen durfte und wo nicht, zu welchem Preis und vor wem er sich hüten musste. Schweigend nahm er all das hin. Seine Kehle schnürte sich zu und kurz darauf stand er wieder auf der Straße. Alleine; perplex, dass all das wirklich passiert war.
Seitdem nahmen die Dinge ihren Lauf. Anfangs kam er noch oft nach Hause und konnte seiner Frau und seinen Kindern eine Freude mit etwas frischem Obst oder sauberem Wasser machen. Doch schon bald hatte die Straße ihn fest im Griff. Ständig geriet er in Konflikt mit anderen Dealern und begann mit der Zeit seinen eigenen Stoff zu konsumieren. Nachdem er einmal völlig drauf nach Hause kam, wurde sein Sohn wach und wollte ihn umarmen. An jenem Tag hatte er auf der Straße schwer einstecken müssen und im Kampf einen großen Teil seiner Ware verloren. Anstatt die Liebe seines Sohnes zu erwidern richtete er Elvis mit einem harten Schlag zu Boden. Es gab in ihrer Hütte nur einen einzigen Raum in dem alle Familienmitglieder eng beieinander schliefen, weshalb daraufhin alle anderen wach wurden. Merima versuchte weinend ihren Mann zur Vernunft zu bringen, doch nichts half. Tief in seinem Inneren hatte eine Wut Besitz von ihm ergriffen, die so zerstörerisch war, dass er nicht erkannte, was er gerade getan hatte. Er verließ torkelnd das Haus und kam wochenlang nicht zurück. Immer mehr Zeit verbrachte er mit Gewalt und Drogen. Jeden Tag den er nicht nach Hause kam, schämte er sich ein bisschen mehr. Doch diese Scham hielt nicht lange und wich schnell wieder dem Hass gegen den Staat, gegen die Ungerechtigkeit und am aller meisten gegen sich selbst.
Die Monate vergingen und die Sucht wurde so überwältigend, dass sie Muhamed bald ganz in seiner Gewalt hatte. Durch seine neuen Kontakte hatte er viele Beziehungen zu skrupellosen Zuhältern und Dealern bekommen, die sogar Menschen verschleppten und sie zu einer Ware degradierten. In einer kühlen Nacht mitten in Belgrad ging ihm der Stoff aus. Er hatte sich bei Ivan vieles zu Schulden kommen lassen und schaffte es nicht mehr seinen eigenen Konsum mit den Einnahmen zu decken, die er zuvor generiert hatte.
Als ihn der Opioid-Entzug packte fiel er weinend vor Ivan auf die Knie und bettelte um eine weitere Chance, eine Möglichkeit wie er sich reinwaschen könnte. Ivan selbst, eine autoritäre Persönlichkeit durch und durch, war schon sein gesamtes Leben von seinen sadistischen Trieben geleitet worden und genoss diesen Anblick sichtlich. Schon tausende Male hatte er erlebt wie sich Menschen selbst in den Ruin trieben, was er schamlos ausnutzte.
„Zigeuner. Oh Zigeuner, bitte wein´ doch nicht. Ich habe eine Lösung für dich, die allen zu Gute kommt!“
„Waa..was denn?“, brachte er nur mit größter Mühe zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Wenn ich richtig informiert bin, hast du zwei Töchter und einen Sohn, richtig?“
„Ja, warum?“
„Ich will deine Jüngste.“
„Nein, das kannst du nicht tun!“
„Aber Muhamed, ruhig, ganz ruhig! Früher oder später wäre das doch eh passiert. Ich verspreche dir ich tue ihr auch nichts!“ und in gewisser Weise stimmte das auch. Denn er selbst hatte sich nie an Kindern vergangen, doch er wusste um das Verlangen der vielen perversen Bastarde da draußen, die in verdreckten Hinterzimmern hilflose junge Mädchen vergewaltigten.
Demonstrativ hielt Ivan einen Beutel mit reinstem Heroin in die Höhe. Unter größtem Energieaufwand versuchte der verschwitzte Muhamed sich aufzurichten und verspürte das Bedürfnis sein Gegenüber blutig zu schlagen. Er wollte sterben, die Zeit zurückdrehen und seiner Frau sagen wie Leid ihm alles tat; alles, alles was er ihr angetan hatte. Doch sein Verlangen sich zu betäuben und in die Tiefen des Heroinrausches abzutauchen besiegte schlussendlich alle anderen Regungen in ihm. So kam es, dass er mit seiner Hand Ivans Bein nur leicht berührte und nicht einmal annähernd bedrohlich auf den emotionslosen Serben vor ihm wirkte.
Weinend brach Muhamed vollends zusammen und gab sich einverstanden. Er wusste, dass er sich das nie verzeihen würde. Ivan warf ihm den Beutel vor die Füße und spuckte als Ausdruck seiner Verachtung in Muhameds Gesicht. Lachend verschwand er mit seinem Geleit in den Unweiten des Gebäudes, als den ausgezehrten Muhamed das Fieber packte.
Die folgenden Tage vergingen wie im Traum, denn er versank in Selbstmitleid, aß nicht mehr und kam immer öfter zu Ivan, um horrende Mengen an Benzos, Heroin und Kokain abzuholen, die er nun gar nicht mehr verkaufte, sondern nur noch selbst konsumierte. Jedes Mal bevor er sich einen Schuss setzte fragte er sich, was passiert wäre, wenn er sich damals anders entschieden hätte. Die Schuld zerfraß seine Innereien. Nur wenn das flüssige Gold in seine Vene schoss fühlte er sich für einen Moment glücklich, nur für einen Moment frei.
Er hatte mit seiner Entscheidung eine unumkehrbare Verkettung an Ereignissen in Gang gesetzt, die er selbst nur vage erahnen konnte.
Noch am gleichen Abend, nachdem Muhamed seine Tochter widerwillig an Ivan verkauft hatte, um seine eigene Sucht zu finanzieren, holten Handlanger des Drogenbarons Adriana von zuhause ab, die gar nicht darum wusste wie ihr geschah. Es war ein unerträgliches Durcheinander. Merima wurde brutal geschlagen, als sie sich mit aller Kraft gegen die Eindringlinge wehrte, doch vergebens. Man brach ihr das Nasenbein und einige Rippen. Alles war voller Blut, nachdem die Männer Adriana entführt und in einem alten Golf aus der Stadt gebracht hatten.
Sie wurde an einen Untergebenen von Ivan ausgeliefert, der sie in ihren Stab aus Prostituierten aufnahm und entsprechend kleidete. Jeden einzelnen Tag wurde sie brutal vergewaltigt und mit Benzos und Antidepressiva gefügig gemacht, wodurch nicht nur der Körper, sondern auch die sensible Neurochemie dieses Kindes irreparabel geschädigt wurde. An wenigen Tagen im Jahr durfte sie unter Aufsicht ihre Mutter sehen, jedes Mal weinte Merima bitterlich und betete zu Gott, dass er sie erlöse.
Muhamed baute innerhalb der Jahre immer weiter ab und vergaß seine Familie irgendwann ganz. Er verdrängte alles was er getan hatte, geriet in Bandenkriege und landete schlussendlich im Gefängnis.
Merima war seit jeher alleinerziehend und lebte nur noch mit Sanela und Elvis zusammen. Die Stimmung war das ganze Jahr über gedrückt, sie litten sehr und Merima dachte oft darüber nach sich das Leben zu nehmen. Im Winter, wenn Schnee lag, hatten sie manchmal gar nichts zu Essen. Die Container waren zugefroren und das wenige Holz was sie fanden war viel zu nass, um ein anständiges Feuer zu machen.
Eines Tages traf Merima durch Zufall Bojan wieder. Seine Familie war zusammen mit der Familie des Muhamed Ramadanovic aus Kosovo geflohen, als sich die Lage zugespitzt hatte. Auf der Flucht hatten sich ihre Wege getrennt und es war Jahre her, dass die beiden sich zuletzt gesehen hatten. Er erkannte sie erst gar nicht wieder, als er an der mageren Bettlerin vorbeilief. Unter Tränen erzählte sie ihm was passiert war. Aufrichtig hörte er ihr zu und seine Miene wurde immer finsterer. Da er in Kosovo eine akademische Laufbahn eingeschlagen hatte, war es ihm möglich gewesen im Ausland eine kleine Tätigkeit als Dozent zu finden, wodurch er seiner Familie in Serbien einen einigermaßen erträglichen Lebensstandard ermöglichen konnte. Er erkundigte sich bei Merima über ihren derzeitigen Wohnort und versprach sie noch am nächsten Tag aufzusuchen. Mit dieser Abmachung gingen die beiden auseinander. Es hatte ihr gut getan über den Schmerz zu reden, auch wenn diese Erleichterung nicht lange anhielt.
Wie versprochen kam Bojan am darauffolgenden Tag in die Siedlung der Merima Ramadanovic. Er berichtete ihr, dass auf der Flucht aus Kosovo sein 3-jähriger Sohn getötet wurde. Seine Frau und er waren allzu vertraut mit dem Gefühl ein Kind zu verlieren, auf die eine oder andere Weise. Die gesamte Nacht hatte er wach gelegen und überlegt wie er das unermessliche Seelenleid einer alten Freundin lindern konnte. Bojan war seit Kindheitstagen ein Mann mit einem hohen Maß an Selbstbeherrschung und altruistischen Prinzipien. Unter mentalen Strapazen kam er zu dem einzig richtigen Schluss, nahm sein gesamtes Erspartes zusammen, umgerechnet knapp 1840 Euro und beschloss damit die unschuldige Adriana zu befreien. Er war schon Anfang 60 und wusste, dass er mit dieser Entscheidung sein Leben aufs Spiel setzte. Innerlich nahm er an jenem Morgen Abschied von seiner Frau und gab ihr einen langen, liebevollen Kuss. Mit den Worten „Ich liebe dich“, verließ er das Haus und kam nie wieder zurück. In seiner Tasche befand sich eine alte 9 Millimeter bei der manchmal der Schlitten klemmte. Seit dem Tod seines Sohnes fehlte ihm etwas im Leben. Innerlich war er fast gebrochen. Seine mentale Gesundheit hing an einem seidenen Faden und ihm war bewusst, dass er vermutlich sterben würde.
Nachdem er Merima nachdrücklich instruierte, was sie zu tun habe, begab er sich mit einem Freund zu der Adresse, die er von ihr erhalten hatte. Es war ein bröckelndes Kalksteinhaus mit einem grünen zerschlissenen Sofa vor der Tür auf dem sich zwei junge Mädchen, nicht älter als 16, niedergelassen hatten. Er schritt durch die angelehnte Tür an der Vorderseite und fand sich in einem verrauchten Korridor wieder, wo er ungemütlich von zwei bulligen Serben empfangen wurde.
„Ich möchte zu Adriana.“, sagte Bojan. Er wurde tiefer in das Haus gebracht, an unzähligen jungen Mädchen vorbei. Jeder von ihnen hatte man die Jugend gestohlen. Die Narben und blauen Flecken erzählten tieftraurige Geschichten über das unmenschliche Leid, das man ihnen zugefügt hatte. Er konnte ihnen nicht in die Augen sehen und senkte den Kopf. In dem Zimmer angekommen schubste man ihn unsanft hinein und schloss die Tür, nachdem er einige Scheine abgedrückt hatte. In der Ecke eines verdreckten Bettes sah er die kleine Adriana, sie war mittlerweile 14, zusammengekauert dasitzen. Man hatte sie in eine enge Leggings mit Leopardenmuster gesteckt. Ein bauchfreies Top, das ihr sichtlich zu klein war, drapierte ihren unförmigen Oberkörper. Ihr fehlte ein Schneidezahn und das Makeup war unter dem ständigen Fluss der Tränen verwischt. Sie war halb-wach und schreckte unter dem Anblick des Mannes vor ihr zurück. Vorsichtig näherte sich Bojan diesem traumatisierten Wesen, denn er wusste, dass sie sich vermutlich nicht an ihn erinnerte.
„Hör zu Adriana, ich habe nicht viel Zeit. Merima schickt mich. Draußen wartet ein Freund von mir, der dich abholt und zu deiner Familie bringt.“
Adriana schaute auf und Bojan sah ihre kleinen, braunen Augen kurz aufblitzen. Im Laufe der Jahre wurde sie gebrochen, doch ein Teil von ihr war noch da drin und wusste, dass dieser fremde Mann die Wahrheit sprach.
„Was soll ich tun?“, entgegnete sie flüsternd.
„Ich helfe dir aus dem Fenster. Für mich ist es zu klein, aber du kannst es schaffen. Ich bleibe solange hier und verschaffe dir genug Zeit, damit du verschwinden kannst. Sobald du aus dem Fenster bist rennst du nach rechts bis zur Straße. Sobald du einen Schuss hörst wartest du kurz bis alle in das Haus gerannt sind und fliehst dann links die Straße runter bis du an einem silbernen Wagen ankommst bei dem ein Rücklicht kaputt ist. Darin wartet ein Freund von mir, der dich zu deiner Mutter bringt.“ und so geschah es. Bojan öffnete leise das hochgelegene Fenster und half ihr hindurch zu krabbeln. Glücklicherweise lag das Zimmer im Erdgeschoss, wodurch sie problemlos an der Fassade heruntergleiten und auf dem Boden landen konnte.
Bojan zog seine Waffe, ließ mit einem metallischen Klicken den Schlitten zurückschnellen und fing innerlich an zu beten.
Er betete dafür, dass seine Frau, der er einen langen, emotionalen Brief hinterlassen hatte, ihm irgendwann verzeihen könnte.
Er betete dafür, dass Adriana es schaffen und irgendwann ein glückliches Leben führen würde.
Er betete dafür, dass Gott Gnade über ihn walten ließ, für das was er jetzt tat.
Ein Schuss fiel und die Kugel glitt durch den weichen Kalkstein, wie durch Butter. Adriana war jetzt hell-wach, vollgepumpt mit Adrenalin. Sie lugte um die Ecke und sah wie einige rauchende Serben ihre Zigaretten wegwarfen und mit gezogener Waffe in das Haus rannten. Das war ihr Zeichen. Sie sprintete links die Straße hinauf bis zu dem genannten Auto, als drei weitere Schüsse fielen. Bojan hatte zwei der hereinstürmenden Männer niederstrecken können, wurde aber von einem dritten überrascht und fing sich eine Kugel in der Schulter. Er sank mit Schmerz-verzerrtem Gesicht zu Boden. Mit dem Wort „Amen“ beendete er sein Gebet, als eine weitere Kugel ihm das Leben nahm.
30 Minuten später fuhr der silberne Wagen am Busbahnhof Belgrads vor und Adriana wurde mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern vereint. Unter Tränen erzählte Adriana ihrer Mutter was passiert war und ihre Worte überschlugen sich. Merima war überglücklich ihre Tochter wiederzusehen, so wie sich eine Mutter freut, wenn sie ihr verloren geglaubtes Kind nach einer unerträglichen Ewigkeit wieder in dem Armen halten kann. Die gesamte Zeit über drückte sie Adriana fest an ihre Brust und sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie schwach sie sich in diesem Moment fühlte. Sie wollte, nein, sie musste für ihre Tochter stark sein, jetzt mehr denn je.
Bojan hatte der Familie Ramadanovic Fahrkarten nach Deutschland besorgt und es war genug Geld übrig, um rechtlich als Tourist einreisen zu können. Merima wusste nun, dass er für seine Tochter das Leben gelassen hatte, was seine unterschwellige Angst am Vortag erklärte. Sie kannte diese Angst. Es war die Angst eines Mannes, der wusste, dass er nicht mehr lange zu leben und außer seinem Leben nichts mehr zu verlieren hat.
Mit einer auffordernden Bewegung bedeutete der Busfahrer Merima Ramadanovic und ihren Kindern sich in den Bus zu setzen. Die Türen schlossen sich und auch Elvis und Sanela weinten mit ihrer Schwester, gänzlich unwissend wie viel Schmerz sie in Wahrheit erfahren hatte. Der Bus setzte sich in Bewegung und sie sahen die Häuser und Menschen an sich vorbeiziehen.
An jenem Tag ließen sie nicht nur die Stadt hinter sich, sondern auch einen Teil des Schmerzes. Sie überquerten problemlos die Grenze Serbiens und kamen nie wieder zurück.
Eine Kurzgeschichte nach wahren Begebenheiten. Die Namen wurden zum Schutz der Betroffenen geändert. Adriana erhielt psychiatrische Hilfe und lebt bis heute mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern in Deutschland.